Český a slovenský zahraniční časopis  
     
 

Leden 2010


Wie polnisch war »Ostpolen«?

Manuel Ruoff

Die heutige Ostgrenze der Republik Polen entspricht weitgehend der so genannten Curzon-Linie, die sich ihrerseits an der Volkstums- und Sprachgrenze orientiert. Vor 90 Jahren verkündeten die Sieger des Ersten Weltkrieges auf der Pariser Friedenskonferenz die nach dem damaligen britischen Außenminister George Curzon benannte Linie als Demarkationslinie.

Die „14 Punkte“ des US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, auf deren Basis die Deutschen sich 1918 zum Friedensschluss bereit erklärt hatten, enthielten mit dem 13. auch einen Punkt über Polen und seine Grenzen: „Ein unabhängiger polnischer Staat sollte errichtet werden, der alle Gebiete einzubegreifen hätte, die von unbestritten polnischer Bevölkerung bewohnt sind; diesem Staat sollte ein freier und sicherer Zugang zur See geöffnet werden, und seine politische sowohl wie wirtschaftliche Unabhängigkeit sollte durch internationale Übereinkommen verbürgt werden.“

Anders als bei der Westgrenze zu Deutschland waren die Siegermächte des Ersten Weltkrieges bemüht, Polen im Osten eine Grenze zu geben, die dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, also der Volkstums- beziehungsweise Sprachgrenze entsprach. Polens östlicher Nachbar, das vormalige Zarenreich, zählten die Kriegssieger nämlich im Gegensatz zu Polens westlichem Nachbarn nicht zu ihren Gegnern. Zwar betrachteten sie Russlands „Rote“ wie die Deutschen als Paria, doch gaben sie sich noch längere Zeit der Hoffnung hin, dass die von ihnen unterstützten „Weißen“ die zukünftigen Herren Russlands wären.

Folgerichtig entwickelten die Sieger auf der Pariser Friedenskonferenz für Polens Abgrenzung gen Osten eine Demarkationslinie, die weitgehend der Sprachgrenze entsprach. Am 8. Dezember 1919 wurde der polnischen Regierung diese Linie mitgeteilt mit der Erlaubnis, bis dorthin ihre Verwaltung auszudehnen. Diese „Linie des 8. Dezember“ bezeichnen wir heute als „Curzon-Linie“.

Ebenso wie im Westen war die polnische Regierung jedoch auch im Osten nicht bereit, sich mit den mehrheitlich von ihren Landsleuten bewohnten Territorien zu begnügen. Wilsons Vorgabe, dass der polnische Staat alle Gebiete „einzubegreifen“ habe, die von unbestritten polnischer Bevölkerung bewohnt sind, legte die Regierung vielmehr in der Weise aus, dass alles Polen sei, wo Polen leben, unabhängig davon, ob sie in ihrer Heimat die Mehrheit bilden.

Mit Waffengewalt trachtete Warschau nun zu gewinnen, was die Sieger in Paris ihnen nicht gewährt hatten. Russlands Bolschewiki verhielten sich im Grunde ähnlich wie zuvor im Ersten Weltkrieg gegenüber den Mittelmächten. Der Kampf um die Macht im Inneren gegen die „Weißen“ hatte für sie Vorrang vor Grenzfragen im Konflikt mit ausländischen Mächten. Vielleicht hatten die Bolschewiki auch ähnlich wie beim Friedensschluss von Brest-Litowsk mit den Mittelmächten die Hoffnung, dass es doch nur um ein Provisorium ginge. Jedenfalls schlug Lenin selbst am 28. Januar 1920 Friedensverhandlungen auf Basis einer Demarkationslinie vor, die zwischen 280 und 400 Kilometer östlich der Volkstumsgrenze lag. Der polnischen Regierung reichte das jedoch nicht. Sie hoffte auf noch mehr Landgewinn.

Im Juni des Jahres wendete sich jedoch das Schlachtenglück. Polens Streitkräfte gerieten in die Defensive und mussten sich zurückziehen. Bis zum Juli rückten die Russen bis zur Curzon-Linie vor. In dieser Situation bat der polnische Premier die auf der Konferenz von Spa vereinten alliierten Staatsmänner um Hilfe. Ein weiteres Mal versuchten nun die Alliierten, die „Linie vom 8. Dezember“ als Grenze durchzusetzen. Nachdem sich die polnische Seite am 10. Juli 1920 zum Rückzug hinter die Curzon-Linie verpflichtet hatte, schlugen die Alliierten telegrafisch den Russen einen Waffenstillstand mit ihr als Demarkationslinie vor. Da das entsprechende Telegramm vom britischen Außenminister George Curzon unterschrieben war, begann sich der Name „Curzon-Linie“ durchzusetzen.

Um ihrem Vorschlag Nachdruck zu verleihen, hatten die Alliierten den Russen für den Fall des Überschreitens der Linie mit der militärischen Unterstützung Polens gedroht. Das hinderte die Sowjets nicht, ihren Vormarsch fortzusetzen. Mit alliierter Unterstützung gelang es den Polen allerdings, die Russen im August 1920 vor Warschau zu stoppen. Analog zum „Wunder an der Marne“ spricht man in diesem Zusammenhang gerne vom „Wunder an der Weichsel“. Nun bewegte sich die Front wieder Richtung Osten und es waren die Russen, die einen Friedensvertrag auf Basis der Curzon-Linie vorschlugen. Dazu waren aber wiederum die Polen nicht bereit. Das Ergebnis der von den Alliierten vermittelten Friedensverhandlungen war schließlich der Friede von Riga. In diesem am 18. März 1921 geschlossenen Frieden konnte Polen eine rund 250 Kilometer östlich der Volkstumsgrenze liegende Staatsgrenze durchsetzen. Selbst nach polnischen Angaben umfasste die Bevölkerung zwischen der Curzon-Linie und der nunmehrigen polnischen Ostgrenze in den frühen 1920er Jahren etwa sechs Millionen Ukrainer und Weißrussen, etwa 1,4 Millionen andere, vor allem Juden und Litauer, aber nur etwa 1,5 Millionen Polen – also etwa 17 Prozent. Dennoch wird das Gebiet zwischen der Volkstumsgrenze beziehungsweise Curzon-Linie im Westen und der in Riga gezogenen Ostgrenze bis zum heutigen Tage in der Bundesrepublik regelmäßig als „Ostpolen“ bezeichnet. Angesichts der Polenfreundlichkeit des Westens mag diese fälschliche Verwendung des Begriffs politisch gewollt sein, aber sie bleibt grob falsch.

Verständlicherweise revidierte Moskau die Friedensregelung von Riga, als Berlin ihm hierzu mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 und dem anschließenden Angriff auf Polen die Möglichkeit bot. Bemerkenswerterweise verzichtete die Sowjetunion – mit Ausnahme des zu erheblichen Teilen weißrussisch-sprachigen Gebietes um Bialystok – auf die Annektierung polnischen Territoriums und begnügte sich nach dem erfolgreichen Polenfeldzug im Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 mit dem nichtpolnischen „Ostpolen“.

Von westalliierter Seite wurde zwar noch versucht, die Sowjetunion für eine östlich von Lemberg verlaufende B-Variante der Curzon-Linie zu gewinnen, aber diese verzichtete nur auf das westlich der Curzon-Linie liegende Bialystok. Die UdSSR ist nun schon seit fast einem Jahrzehnt Geschichte, aber die von ihr gezogene Ostgrenze Polens auf der Basis der Curzon-Linie hat bis heute Bestand.

(www.ostpreussen.de/preussische-allgemeine-zeitung)



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